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Vom Hingucker zur Anstössigkeit

Die Geschichte des Nippels in der Mode

Alle Menschen haben sie. Die meisten zwei. Einige mehr, einige weniger. Dafür, dass sie so normal sind, bieten besonders die weiblichen Exemplare ziemlich viel Skandal-Potenzial. Seit wann weibliche Nippel so verteufelt werden? Ihre Geschichte von damals bis heute.

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Victoria Beckham Nipple Skandal

2000 designte das damalige Spice Girl noch nicht selbst, lief aber – mit auffälligen Nippeln – über den Runway von Maria Grachvogel.

PA Images via Getty Images

Hand hoch, wer gerade im Homeoffice sitzt und keinen BH trägt! Es fühlt sich schliesslich gut an, nicht täglich mit pieksenden Metallbügeln unter der Brust herumzulaufen, die unangenehme Druckstellen verursachen, die kein Mensch gebrauchen kann. Trotzdem tun wir es immer noch fast täglich an (also, üblicherweise, wenn wir unseren heimischen Schreibtisch mal verlassen). Wieso eigentlich? Um den Standards in der Gesellschaft gerecht zu werden? Nicht jedem Dahergelaufenen unsere Nippel zu präsentieren? Weil Instagram sie immer noch zensiert? Das einzige, was sicher ist: Natürlich ist diese Scheu nicht. Früher sah das nämlich mal ganz anders aus.

Agnès, die Rebellin

Kurze Zeitreise ins 15. Jahrhundert: Agnès Sorel war in der Blütezeit ihres Lebens, als sie von Charles VII offiziell zu seiner Mätresse erkoren wurde, alle Rechte am Hof inklusive. Sie war ausserdem sowas wie die Bella Hadid von 1444 – eine Trendsetterin, die ihren Nippeln gern besondere Aufmerksamkeit bei der Wahl ihrer Outfits zukommen liess. Sie trug ihre Korsetts obenrum gern ungeschnürt, sodass der Blick auf ihre Brüste frei lag. Das war zwar frech, sorgte damals aber noch für weitaus weniger Aufmerksamkeit als die Tatsache, dass sie es sich erlaubte, ein Collier mit Diamanten um den Hals zu tragen (das war nur Königen gestattet). Mit ihrem Nippel-Fokus setzte sie dafür einen Trend, dem viele folgten.

(Eingeschränkte Rechte für bestimmte redaktionelle Kunden in Deutschland. Limited rights for specific editorial clients in Germany.) Agnes Sorel*um1422-1450+Mätresse von Karl VII. von FrankreichPorträtStich von Hopewood nach einer Zeichnung von Sandoz, vermutl. 19. Jahrhundert (Photo by ullstein bild/ullstein bild via Getty Images)

Agnès Sorel lebte nach dem Motto «Zeig, was du hast!».

ullstein bild via Getty Images

Der Nippel am königlichen Hofe

Drei Jahrhunderte später war es erneut wahnsinnig hip, Nippel zu zeigen. Aber nicht etwa auf dem Land oder in der Kneipe, wo denkt ihr hin! Mode war etwas, das den Adligen am Hofe vorbehalten war. Wer es sich leisten konnte, stolzierte mit tief geschnürten Korsetts, die UNTER den Nippeln endeten, zum Bankett. Allen voran Gabrielle Émilie Le Tonnelier de Breteuil, Marquise du Châtelet-Laumont. Sie war ziemlich clever, gebildet in Philosophie und Mathematik, die Mätresse von Voltaire und hatte eine Schwäche für Rouge. Auf ihren Nippeln. In Kleider gepackt, aus denen sie oben herausschauten, wurden sie perfekt in Szene gesetzt. Wer nicht so der Blush-Fan war, konnte auch auf kunstvoll geformte und kristallbesetzte Ringe zurückgreifen, die um die Brustwarzen gelegt wurden. Très chic.

UNSPECIFIED - MAY 14: Portrait of Gabrielle Emilie Le Tonnelier de Breteuil, Marquise de Chatelet (Paris, 1706-Luneville, 1749), French mathematician, physics and writer. Oil on canvas attributed to Maurice-Quentin de La Tour (1704-1788). (Photo by DeAgostini/Getty Images)

Gabrielle Émilie Le Tonnelier de Breteuil, Marquise du Châtelet-Laumont – das ist ihr voller Name inklusive Titel. Sie war Mathematikerin. Und sie zeigte gern ihre Nippel.

De Agostini via Getty Images

1780 kam der offene Nippel langsam aus der Mode und die Kleider reichten höher. Napoleons Schwester, Pauline Bonaparte, hielt allerdings nicht viel von der neuen Mode und trug statt engen Korsagen gern transparente Kleider, um dem Hof etwas zu Reden zu geben. Dem Rouge-Trick ihrer Vorgängerinnen blieb sie dennoch treu. Sie war damit eine der Letzten.

Pauline Bonaparte, Princess Borghese, Duchess of Guastalla (1780-1825). Found in the collection of Musée de l'Histoire de France, Château de Versailles. (Photo by Fine Art Images/Heritage Images/Getty Images)

Pauline Bonaparte setzte statt auf die Korsagen lieber auf die heute wieder beliebten Naked Dresses.

Heritage Images/Getty Images

Weg mit der Brustwarze!

Die Trends, die folgten, fokussierten sich vor allem auf eins: die Nippel zu verdecken. Nach Möglichkeit komplett und das nicht nur farblich, sondern auch so, dass nicht mal ihre Form mehr zu erahnen war. Das heisst: Insofern man eine Frau war. Männer durften sich ab sofort umso lieber oben ohne zeigen.
War der Körper trainiert, schaute man gerne hin. War er das nicht, dachte man sich nichts weiter dabei. Die Männer zogen also blank und die Frauen begannen, sich zu verhüllen. Nicht zu viel, versteht sich. Ein Bikini war schon in Ordnung. Man sollte ja erahnen dürfen, welche Kurven sich darunter «versteckten» – eine Gratwanderung.
In den 1960ern hatte eine Gruppe von Frauen schliesslich genug von der Objektifizierung und all der Heimlichtuerei um die Rundungen unter BHs und Bikinis. Sie protestieren vor der Miss America Wahl und entsorgten ihre unbequemen Exemplare symbolisch in eine «Freedom Trash Can». Der Teil der Geschichte, in dem sie die Mülltonne anschliessend anzündeten, um ihre BHs dramatisch zu verbrennen, hat übrigens nie stattgefunden.

On the Atlantic City Boardwalk, demonstrators, some waving high heels or underwear, protest the Miss America beauty pageant, Atlantic City, New Jersey, September 7, 1968. The protest, organized by the New York Radical Women group, was known as 'No More Miss America,' after a pamphlet written and distributed by the group. (Photo by Bev Grant/Getty Images)

1968 haben einige Frauen genug von der Objektifizierung und Sexualisierung der Frau und ihrer Nippel. 

Getty Images

Ihrem Beispiel folgten Bianca Jagger, Jane Birkin und Cher – ihnen allen waren BHs ziemlich egal. Ob jemand ihre Nippel sehen konnte, erst recht. Sie legten den Grundstein für die zweite, goldene Ära der weiblichen Brustwarzen in der Mode: die 1990er.

UNSPECIFIED - MAY 12:  ST TROPEZ  Photo of ROLLING STONES and Bianca JAGGER and Mick JAGGER, Mick Jagger talking to wife Bianca Jagger at a party in St Tropez  (Photo by RB/Redferns)

Man sieht nichts. Wenn doch, wäre es Bianca Jagger aber auch egal gewesen. 

Redferns

Die Nippel-Ära, Part II

Kate Moss. Madonna. Zirca jedes Design, das Jean-Paul Gaultier jemals entworfen hat. Alle feierten plötzlich die frohe Botschaft: Frauen haben Nippel, und wenn sie jemand sieht, wird er weder versteinert noch fällt er tot um! Man kann sie anschauen, ohne gleich über die jeweilige Frau herzufallen. Wer hätte das gedacht!
Folglich kam auch Jennifer Aniston in «Friends» gar nicht erst auf die Idee, mal einen BH anzulegen. Und Samantha lieh Miranda ihre Stick-on-Nippel in einer Folge von «Sex and the City» – bewundernde Blicke der Männer inklusive. 

Madonna and Jean-Paul Gaultier (Photo by Kevin Mazur Archive/WireImage)

Auf einer Benefiz-Veranstaltung erscheint Madonna 1992 in einem Einteiler, der eigentlich nur eine Hose mit Trägern ist.

WireImage

Fashion Tits

Heute sind es Bella Hadid, Kendall Jenner und Miley Cyrus, die ihre Nippel der Welt präsentieren. Wundern tut sich keiner mehr. Höchstens freuen. Sie sind ein Stück weit zur Normalität geworden. Sie sind zwar da, aber werden nicht sofort über-sexualisiert. Aber sie kommen mit einem Problem. Denn ihre Nippel und die dazugehörigen Brüste sind etwas, das unsere Gesellschaft heute als «Fashion Tits» betitelt: Sie sind unverschämt perfekt. Aus rein praktischen Gründen bräuchten sie ohnehin keinen BH. Sie hängen nicht, stehen nah beieinander und die Brustwarzen sitzen so unnatürlich hoch, das man sich zwangsläufig fragt, ob mit einem selbst irgendetwas nicht stimmt. Wenn sie im 100. Naked Dress auf einer Party hervorblitzen, oder unter einem engen Top im kalten Wind sichtbar werden, dreht sich niemand mehr um. Sie gehören ja schliesslich zum Körper der Damen.

Von Style am 8. März 2024 - 16:00 Uhr